Solo Exhibitions

Laudatio „Ernst Barlach Preis 2014“ an Wang Shugang

China ist ein großes und großartiges Land und die Geschichte ein breiter, langer Fluß, in welchen man niemals an der selben Stelle eintreten kann. Zwei Jahre bevor Wang Shugang in Peking in diesen Fluß steigt, ruft 1958 Mao Tse-Dong zum „Großen Sprung nach vorn“ auf, ein Wirtschaftsprogramm, um Chinas zweiten Fünfjahresplan in nur zwei Jahren zu erfüllen und das Land außergewöhnlich schnell voranzubringen. Doch die damit verbundenen Kampagnen sind übereilt und ruinieren die Volksrepublik. Wegen der Vernachlässigung der Landwirtschaft folgt eine der größten von Menschen ausgelösten Hungersnot der Geschichte mit rund 30 Millionen Toten. Ungerechterweise sehr verkürzt die ungeheuerlichen Hintergründe einer Historie, die von Gewalt, Erniedrigung, Restriktionen und Ungerechtigkeit eines Riesenreichs geprägt ist. Wie viele Einzelschicksale hinter diesen lakonischen Daten der Erneuerung liegen, vermögen wir uns kaum vorzustellen.

Shugang ist sechs Jahre alt, da beginnt die Kulturrvolution. Die von Mao proklamierte chinesische Große Proletarische Kulturrevolution war eine politische Kampagne zwischen 1966 und 1976. Zunächst wurde sie als eine Bewegung zur Beseitigung von Missständen in Staat und Gesellschaft von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt. Schnell jedoch war die Reihe von Massenkampagnen, die sich ablösten und teilweise widersprachen, nicht mehr kontrollierbar – und so wurden aus der ursprünglich geplanten halb-jährigen Kulturrevolution 10 Jahre, immer wieder verlängert bis zu Maos Tod. Konnte Mao zu Beginn noch wesentliche Teile der Bevölkerung für die Kulturrevolution begeistern, wurden die in den letzten Jahren angeordneten Massenbewegungen zu lustlos abgehaltenen Pflichtritualen.

Wang Shugang ist 1967 – im zweiten Jahr der Kulturrevolution – in die Schule gekommen und seine Schullaufbahn war maßgeblich durch diese geprägt. Unterricht hatte damals wenig mit Bildung und Allgemeinwissen zu tun, sondern es handelte sich hauptsächlich um politische “Bildung”. Für Wang steht dieses Bildungskonzept im drastischen Gegensatz zur tradierten chinesischen Erziehungskultur: Konfuzius ging davon aus, also als Grundannahme gegenüber jedem Individuum, dass der Mensch gut ist – in der Kulturrevolution ging es überwiegend aber um Kampf, Klassenkampf und Niederschlagung.

Propaganda – das große Wort dieser Zeit! Wer bestimmte Fähigkeiten hatte, durfte diese allein in der Propaganda ausleben. Shugang konnte gut malen und zeichnen und “durfte” dies im Sinne der allgemeinen Agitation in den Wandzeitungen anwenden. Er zeichnete noch in der Grundschule vor allem Propaganda/Lehr-Comics – und kam so im Jahre 1971 – Wang ist jetzt in der 4. Klasse und 11 Jahre alt – an seine erste Ausstellung!! Seine Schule unterhielt eine Partnerschaft mit einer japanischen Schule (und war damit eine von 2 Schulen in Beijing, die Kontakt zum Ausland hatte). Wang Shugang durfte seine Bilder damals jedenfalls im Rahmen dieses Austausches nach Japan schicken, wo sie in der dortigen Partnergrundschule ausgestellt wurden. – Er fragt sich heute, ob das womöglich eine Belohnung für besonders gutes revolutionäres Verhalten der ganzen Schule war?  //  Denn nur in der „unästhetischen“ Demokratie kommt der Künstler als autonomes Genie vor, im „Gesamtkunstwerk Mao“ hilft er an der Ästhetisierung der Gesellschaft und des Staates mitzuwirken.

In der Mittelschule lernte Wang Shugang dann andere Maler/Zeichner kennen und lernte wissbegierig von diesen … aber diese waren mehr oder weniger “Laien” – also Leute, die sich aufs Malen verstanden, die Techniken beherrschten – aber keine akademischen Lehrer in dem Sinne: die Hochschulen waren nach wie vor geschlossen. Zu dieser Zeit ging Shugang dann auch oft raus, um Menschen und Stadtszenen zu studieren und zu zeichnen – so erinnert er sich an Ausflüge zum Bahnhof, wo er die Wartenden zeichnete. Beobachtung und Anschauung sind das Fundament der Erkenntnis…

Nach der Kulturrevolution wurde unter anderem auch die Uni-Aufnahme-Prüfung (Gao Kao) wiederaufgenommen – jedoch Shugang konnte sich damals keine Ölfarben oder Leinwände leisten. Er lernte den Bruder eines Schulkameraden kennen – der war Arbeiter, aber modellierte in seiner Freizeit kleine Skulpturen. Das gab Shugang die Möglichkeit, Kunst zu machen – denn die Lehmarbeiten konnte er immer wieder einstampfen und Neues daraus machen. Er ist also irgendwie durch Armut zur Bildhauerei gekommen – lieber hätte er zu dieser Zeit wohl gemalt.

Gleichzeitig kamen viele der ehemaligen Hochschullehrer – auch die der Kunsthochschulen – vom Lande, wo sie “von den Bauern hatten lernen müssen” zurück in die Städte. Zu dieser Zeit lernte Shugang einen aus der UDSSR zurückgekehrten Hochschullehrer kennen, der ihm viel beibrachte und wie ein Mentor war. Wenn er zum Beispiel ein Portrait fertig hatte, ging er mit dem Model zur Wangfujing – dem damaligen Sitz der Kunstakademie inmitten der Hauptgeschäftsstraße in Beijing – und hat seine Arbeit dem Professor vorgestellt um von diesem Anregungen und Kritik zu bekommen.

So konnte er dann im 2. Jahr nach seinem Schulabschluss an der ersten Gao Kao teilnehmen und schaffte es, einen Platz im ersten Jahrgang nach der Kulturrevolution für Bildhauerei zu bekommen. Zu dieser Zeit lernte er auch Tan Ping kennen, den heutigen Vizepräsidenten der CAFA (Zentralakademie für Bildende Künste in Beijing). Die beiden wohnten in einem Zimmer. In diesem Jahr (wir sprechen von 1980) hat die CAFA insgesamt 32 Studenten aufgenommen – für ALLE Bereiche und aus ganz China. Unvorstellbar!

Aber von heute aus betrachtet hat er zu dieser Zeit nicht wirklich verstanden oder erkannt, was Kunst eigentlich ist – außer Technik! Technikausbildung und Kopieren von oder Schulung an den alten Meistern. Später im Studium reiste er viel durch China, um sich alte chinesische Kulturdenkmäler anzuschauen, die ihn auch beeindruckt haben – aber mit dem wirklich Leben hatte das eben nichts zu tun. Was aber sollte das wirkliche Leben sein – wo fand die KUNST denn wirklich statt?

Wang Shugang beschreibt persönlich zwei Erlebnisse als prägend während des Studiums: 1982 die erste Käthe Kollwitz-Ausstellung in China – die Expressivität ihrer Graphik hat ihn sehr beeindruckt und er hat auf einmal etwas gesehen: Kunst hat mit der Gesellschaft zu tun und kann Einfluss nehmen – aus sich selbst heraus.

1984 das zweite Erlebnis: Shugang ging für ein halbes Jahr nach Tibet, um “Material” für seine Abschlussarbeit zu finden. Das harte Leben dort hat dem 24-Jährigen schwer imponiert – er verstand, welchen Stellenwert der Mensch wesenhaft in der Natur hat. Bisher hatte er immer nur gesehen, welchen Stellenwert der Mensch in der Gesellschaft oder gar in bzw. für die Revolution hat. Oft war es nur der Glaube, der die Tibeter damals vor den Härten der Natur schützte. Shugang hatte für sich etwas “Wirkliches, Echtes und Ursprüngliches” gefunden.

1985 schloss er das Studium ab und wurde dem Stadtplanungsministerium zugeteilt, zuständig für Kunst (Skulptur und Wandbild) im öffentlichen Raum. Das hat er genau ein Jahr ausgehalten und dann gekündigt. Danach war er “arbeitslos” und musste irgendwie von vorne anfangen.

China hatte damals keine Sammler oder andere Abnehmer für Kunst – lediglich Ausländer (Botschaftsmitarbeiter und Journalisten) interessierten sich und organisierten kleine Ausstellung in den Botschaften oder bei sich Zuhause (“Salons”) – der chinesische Markt war schlicht nicht existent – und die Künstler lebten am Rande der Gesellschaft. Erst durch diese Ausländer lernten Wang Shugang und seine Freunde den Wert von chinesischer Kunst kennen: auch die “Untergrundkunst” etc. Außerdem gab es auf einmal Absolventen diverser Kunsthochschulen in ganz China. Die begannen sich von den Fesseln der vorangegangen Jahrzehnte zu befreien. Trotzdem kann man sicherlich nicht sagen, dass die damalige Szene wirklich progressiv, provokativ, oder “modern” war – es musste im Prinzip von vorne angefangen werden. Nach 1949 war der Schnitt zwischen China und dem westlichen Rest der Welt komplett und kaum überwindbar! (Nur über die DDR war eine Art Brückenkopf gegeben.)

Die Kunstszene, aber ganz allgemein die Studenten- und Intellektuellenszene der Mit-80er war ein Neuanfang und auch ein Aufarbeiten, das zarte Pflänzchen demokratisch-freiheitlichen Denkens, dessen dramatisches Ende wir alle kennen.

1989 im Juni verlässt Shugang China – gemeinsam mit seiner damaligen deutschen Frau. Im Vorfeld hatte es die Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz gegeben, an denen Shugang – wie die meisten seiner Kommilitonen – teilgenommen hatte. Das blutige Ende der Demokratiebewegung hat er somit hautnah miterlebt.

In Deutschland angekommen ein anderer Kulturschock: Alles war neu für Wang Shugang – und das meiste anders als gedacht. Er empfand Deutschland als eher traditionell und konservativ und nicht, wie erträumt, als total offen und modern. Auch in der Kunst war das ähnlich: Er wusste eigentlich überhaupt nicht, was er noch machen sollte, wo es Problemstellungen zu bearbeiten galt. Als er zum Beispiel in Köln das Museum Ludwig besuchen wollte, traute er sich erst einmal eine Stunde lang nicht rein, aus Angst desillusioniert zu werden, und schlich um den Bildungstempel herum. Schwellenangst nennt man dies bezeichnend. Und so war es dann auch: Er hat nicht viel von dem, was er sah verstanden, und wusste um so weniger, was er selbst, er als Künstler noch beitragen könnte. Ein Grund – das ist ihm heute natürlich klar – für das Nicht-Verstehen, war der Mangel an Geschichtsverständnis – an Bildung westlicher Prägung. Denn etwas dürfen wir nicht vergessen: das Konzept der autonomen Kunst seit der Aufklärung ist ein allein westliches.

Um zu überleben – zu dieser Zeit lebte er im Ruhrgebiet – hat Shugang unterschiedliche Jobs u. a. als Lagerarbeiter angenommen. Irgendwann hatte er das Gefühl, so ohne Sprache, ohne wirklichen intellektuellen Input am absoluten Tiefpunkt angekommen zu sein: Shugang im Glück und doch unendlich einsam. Freiheit und Einsamkeit. Ein Schicksal der „unästhetischen Demokratie“. Er fing langsam wieder an, ein bisschen zu malen, kleinere Installationen zu probieren.

Er begann, sich mit westlicher Geschichte, Kunst, Philosophie und klassischer Musik zu beschäftigen – und besuchte mehr und mehr Museen – so fand er zaghaft einen Zugang. In dieser Zeit lebte er in Essen – und fuhr oft nach Duisburg ins Wilhelm-Lehmbruck-Museum. Lehmbruck, neben Kollwitz und Ernst Barlach ,der wichtigste Bildhauer des deutschen Expressionismus, in deren Tradition Wang Shugang insbesondere hier und heute als Preisträger zu sehen ist.

1999 lernte er in Deutschland seine jetzige Frau Julia kennen, beide leben seit 2000 in Beijing. Seit der Jahrtausendwende hat Wang Shugang sich (beruflich) nur noch um seine Kunst gekümmert.

Soviel zu den biografischen Grunddaten, genau genommen seine künstlerische Lebensgrundlage, hier in Wedel kurz und dramatisch gerafft, denn und aber, sein Künstler-Dasein und Selbstverständnis beginnt gleichsam erst jetzt, im Alter von 40 bewegten Lebens-Jahren in seiner alten Heimatstadt Beijing. Ein Neubeginn!

In den Anfängen der 798 (Künstlerviertel in Beijing) hat Shugang mehrere, man darf sagen legendäre Ausstellungen mitorganisiert und an ihnen teilgenommen – “ unter anderem: 2004 Reconstruction 798: Echo – 798 Space, Beijing, China – 1. Dash

“The left Hand and the right hand”, Dashanzi Art District (DAD – former 798 factory),

– 1.Dashanzi International Art Festival, Dashanzi Art District, Beijing, China; 2005 Feng Boyi, Convergence at E116/ N40, 798 Dayaolu Workshop

Das war auch genau der Moment, wo wir uns kennenlernten. 2005 lebte ich eine zeitlang mit der Familie wegen eines Austauschsprojekts in Peking. Wir trafen ihn und seine Familie bei einer Ausstellungseröffnung im heissen Sommer im Garten des Hauses von Hans van Dijk. Der Niederländer Hans/Hanzhi van Dijk kam 1986 nach China, wo er begann, Werke zeitgenössischer chinesischer Künstler zu dokumentieren und zu archivieren. Im Jahr 1999 gründete er gemeinsam mit Frank Uytterhaegen und Ai Weiwei eben jenes „China Art Archives and Warehouse“ (CAAW). Er starb im April 2002 – sein Büro und Archiv CAAW war längst eine Basis und ein Schmelztiegel der Outlaws geworden. Sein Archiv über 5000 chinesischer Künstler ist eines der wertvollsten Dokumente dieser Zeit der Umbrüche und des Neubeginns der letzten 16 Jahre in China. Seine Nähe zu Ai Weiwei – er ist quasi Nachbar – ein guter Umstand.

Hier begegneten wir uns und all dies – auch Wang Shugang – war für mich wie ein Mythos, war ich doch enorm fasziniert von seinem beleuchteten Schornstein, dessen Fotos ich gesehen hatte. Diese Lichtkunstarbeit im öffentlichen Raum entstand im April 2004 anlässlich des 1. Dashanzi Art Festivals im 798.- ZKM/ LICHTKUNST

(Ursprünglich wollte Shugang zwei Schornsteine von innen beleuchten – das Thema lautete “Wir lieben uns” – aber die Besitzer der Fabrik haben dies letztlich nicht genehmigt.)

Shugang entschied sich, dann nur einen Schornstein von außen rot anzustrahlen. Es sah aus, als würde der Schornstein glühen. Und das Thema / den Titel hat Shugang dann in “Meaningless Red” umgewandelt. “Meaningless” vor allem deshalb, weil in China Namen oft total überlastet waren (und bis heute sind). Shugang wollte sein rot schlicht “rot” nennen – ohne irgendwelche besondere Hintergedanken dabei zu provozieren. Rot ist einfach rot! Nicht mehr – und nicht weniger… Eine Zeitlang war der beleuchtete Schornstein eine Art Wahrzeichen in 798 und wurde wenig später in Shanghai re-inszeniert. Das war Konzept-Kunst und dessen Urheber lernte ich im Sommer 2005 im CAAW kennen!!

Ein anderes „Wahrzeichen“ Pekings ist Shugangs Skulptur auf dem Dach des Kempinski Hotels. Ein Mann hält eine Neonschrift über der Stadt, ihr Text lautet „Nichts zu sehen“. Hiermit werden philosophische Fragestellungen angesprochen, aber auch die ständige Dunstglocke und Luftverschmutzung Pekings.

2 Jahre vorher – im September 2003 – hatte es in der gleichen Halle die ebenfalls von Feng Boyi kuratierte Ausstellung “Linke Hand / Rechte Hand” gegeben – da hatte Shugang aus lauter kleinen Männern, die einen Kotau machen, einen riesigen Schweinskopf an die Wand gemacht. Die Wand selbst war eine Arbeit von Zhu Jinshi. Aber die allererste Ausstellung war im April 2003 gewesen – die Reconstructing 798 Geschichte – da hatte Shugang zum ersten Mal seine acht kehrenden Mönchen gezeigt.

Die Geschichte und die Kunstgeschichten Chinas sind spannend und aufregend. Die Zeit nach der Kulturrevolution und die Phase vor und dann spät nach 1989 sind die schicksalreichsten. Bei meinem ersten Besuch in Peking in eben jenem CAAW mit Wang Shugang und vielen Künstlerinnen und Künstlern, die ich kennenlernen durfte,  damals, im Jahre 2005, waren Jahre der Aufbruchsstimmung: Boom und Hype des Neuen Chinas waren allerorten erfahrbar. Dashanzi, das berühmte 798 in Peking, oder die Moganshan Lu in Shanghai entwickelten sich zu Pilgerstätten der Kunstscharen. Die urbane Struktur und die Gesellschaft mögen sich rasant ändern, der Mensch jedoch, das Individuum bildet sich achtungsvoll im jeweiligen Zeitgeist spiegelnd ab. Hierfür ist die extrem philanthropische und bisweilen ironische Kunst Wang Shugangs beredtes Zeugnis und stilles Monument inmitten der Brandung des chinesischen Turbo-Kapitalismus, der viele Traditionen und sozialen Bereiche zerstört. Shugangs Kunst thematisiert den Wandel, die Politik, die Gesellschaft, das Soziale, das Rituelle und Rituale, Gewohnheiten (…) aber immer zentral steht in seiner Kunst der Mensch, der Glaube an das Individuum!

Und somit ehren wir einen Künstler, dessen Leben sich Toleranz und Vernunft widmet, und dem Verständnis der Menschen untereinander, speziell in seiner Heimat, aber auch ganz allgemein. Wang Shugangs Botschaft als Botschafter des Verständnisses von Humanität ist beeindruckend und großartig, und er ist ein würdiger Preisträger im Sinne von Ernst Barlach!

Xiexie Shugang, aber auch ein herzliches Danke Ihnen, der Ernst- Barlach Gesellschaft und allen Freunden.

In diesem Sinne gratuliere ich Wang Shugang zum Ernst Barlach Preis 2014 und freue mich sehr über diese Ehrung an einen außerordentlichen Künstler und einen aufrichtig großen Menschen!

Gregor Jansen, 31. August 2014

Andenken

Eine rote Beere wächst

Land im Süden –

Die Zweige sind voll von ihnen

Wenn der Frühling kommt.

Sammeln Sie einige, ich bete,

und füllen Sie Ihre Taschen –

Das sind die besten

Vergißmeinnicht-Knoten!

(von Wang Wei,  699-759, Tang Dynastie)

In seiner neuesten Figurengruppe stellt der in Peking lebende Bildhauer Wang Shugang männliche Personen dar, die mit Qigong-Kugeln oder Vögeln spielen. Die Bronzen schildern eine typische Pekinger-Stadtszene  – ein ruhiges, friedliches Bild, welches man morgens und abends in den Altstadt-Strassen von Beijing häufig sehen kann. Der hohe Grad an Realismus in den Bronzen gibt somit ein eher altmodisch anmutendes, jedoch sehr sympathisches Spiegelbild dieser Szenerien inmitten der sonst dominierenden Pekinger Hochgeschwindigkeitsurbanisierung. Im rasanten Aufstieg der chinesischen Hauptstadt – und nicht nur hier – zogen in den letzten Jahren Millionen Menschen in ihren Bannkreis, wurden gigantische Ringstrassen und Wohnviertel angelegt, wich das alte Peking der Hutongviertel mehr und mehr dem neuen, modernen Peking.

Dies hat Auswirkungen auf seine Bewohner, auf die Generationen und das Miteinander. Die Migrantenströme und Umsiedlungen von Millionen führen auch zu radikalen Veränderungen in der Gesellschaft, im sozialen Verhalten und in der Verrichtung der Traditionen und liebgewonnener Bräuche wie das gemeinsame Musizieren und Singen, die Brettspiele, Gymnastik und Sport im Freien.

Für Wang Shugang ist diese täglich zu beobachtende Veränderung eine wichtige Problemstellung, der er sich in seinen Arbeiten immer wieder widmet. Der Konflikt von Tradition und Moderne, der spürbare Verlust von Geschichte und Kultur ist eine dem Menschen Wang Shugang wie seiner Zeitgenossen bisweilen schmerzhafte Erfahrung. Aber es gibt auch interessante Bezüge in die Vergangenheit, da die Entwicklung der Spiel-Kultur im Freien aus  dem Ende der Qing-Dynastie ableitbar ist, als überwiegend der enttrohnte Adel sich diesen Tätigkeiten hingab. Diese Schicht hatte genug Geld, um nicht arbeiten zu müssen. Sie konnten sich den Tag in Teehäusern vertreiben, was der in Deutschland studierte Wang mit der Pariser Boheme, wie sie von Walter Benjamin in den 1920er Jahren beschrieben wird, als durchaus sinnstiftende Parallele erwähnt. An den Rändern der attraktiven „In-Plätze“ der Stadt wurde das ungebundene Leben kultiviert und äußerte sich in Dandys und Wichtigtuern, die für den Künstler Wang im Spätstadium einer gesellschafts-politischen Selbst-Kastration gleich kommen: die meist jungen Männer gaben sich völlig dem „Spiel“ hin und versanken so immer mehr in der Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig wurden diese Arten des Zeitvertreibs aber nach und nach zu einem typischen Beijinger Phänomen, das man bis heute immer wieder und überall entdecken kann

Nach der von vielen leidvollen Erfahrungen wie Bürgerkrieg, Revolution, Kulturrevolution und 30 Jahren wirtschaftliche Öffnung reichen Geschichte Chinas, findet man heute oben genannte Tätigkeiten (das Spielen mit Qigong-Kugeln und das Halten von Vögeln) und noch einige mehr nicht mehr in der „Oberschicht“. Sondern es ist mittlerweile genau umgekehrt: es sind die Armen, die Alten, in erster Linie die einfachen Menschen, die im Spiel versunken melancholisch beisammen stehen oder sitzen. Das Prinzip der Dandys, die sich den Tag mit ihresgleichen, oder der „Kumpels“ beim Spiel vertreiben, weil sie es sich leisten können, ist zum Prinzip derjenigen Bevölkerungsgruppe geworden, die sich eben nichts anderes mehr leisten können. Denen die modernen Spiel-Geräte verborgen bleiben. In den neuen, fortschrittlichen Strassen und Gassen der Stadt findet man sie nicht mehr – sie bleiben (zurück) in den alten, gewachsenen Vierteln.

Die Tradition der Vogelhaltung in kleinen, oben gerundeten Käfigen und die Freude an deren Gesang, hat in China eine lange Tradition. Der Vogel steht in China wie in Deutschland für die Freiheit, für ein Gefühl von himmlischem Gesang. Indem man den Vogel kultiviert, versuchen die Menschen demnach, das Schönste an ihm (seinen Gesang) einzufangen. Und zerstören damit aber seine eigentliche Energie und Kraft, denn so versteht es Wang Shugang: durch das Anketten, den Raub der Freiheit, macht man sich letztendlich selbst unfrei! Und in einer negativen Wendung der Deutung der in den Händen ruhenden Qigong-Kugeln, erinnern ihn diese an Masturbation. Den Männern bleibt zum Schluß nichts mehr übrig als sie selbst, unfähig zur Liebe und Freiheit zum Leben, übertragen zum Sinn des Lebens.

Zwei Aspekte zur Rolle des Künstlers und des Individuums in der Gesellschaft sind noch anzumerken. Die Figuren stehen auf Sockeln, was ihren Wert, ihre Position erhöht und als Gruppen, was ihre Zusammengehörigkeit demonstriert. Generell läßt

die chinesische Gesellschaft keinen Raum für Individualismus. Ein das soziale Subjekt sehr bestimmender Moment, den Wang Shugang durch die Uniformierung seiner Skulpturen, die ihm auch in bestimmten Merkmalen ähnlich sehen, thematisiert und den Einzelnen in eine Art vereinzelte Gruppe zwingt. Die Identität der Einzelnen ändert sich je nach Betrachtung und ist wie zwei Seiten eines Spiegels lesbar: entweder spiegeln die Figuren den Künstler, oder es ist der Künstler, der die Figuren spiegelt. Sicher ist jedoch, daß Wang ihnen, den armen und alten Ausgegrenzten des neuen China und neuen Peking eine neue Umgebung schafft. Sie werden aus ihrer einfachen und meist „schmuddeligen“ Lebensumgebung in die reine, klinisch weiße Umgebung eines Ausstellungsraumes für Kunst gebracht und damit zum zweiten Mal in eine neue, künstliche Umgebung gestellt.

Bei allen Klischees, Wang Shugang widmet sich dem Menschen, dem Individuum in traditioneller Manier und (ver)zerrt sich zugleich in die Gruppe, in denen die kollektive Ich-Identität aufgehoben ist – im doppelten Wortsinne.

Die Aufmerksamkeit werden die Individuen jedoch an beiden Orten besitzen und benötigen, im harten urbanen realen Alltag Pekings und im von allen Störelementen gereinigten White Cube der Kunstwelt. Diese Aufmerksamkeit wird mehr und mehr notwendig, um eine neue Sicht auf deren und unser Leben wachzurufen.

Gregor Jansen

纪念

相思

红豆生南国,

春来发几枝。

愿君多采撷,

此物最相思。

(唐朝诗人王维 699-759)

生活在北京的雕塑艺术家王书刚在最新创作的人物群像中塑造了一群把玩太极球和逗鸟的男人。这些青铜作品表现了具有北京特色的城市景象——一幅宁静祥和的画面,在北京旧城的街头巷尾随处可见。高度写实的青铜作品虽然给人以过时老旧的感觉,但出现在京城都市快节奏中的这些场景也令人倍感亲切。这座中国的首都城市在过去的几年中吸引了数百万人的到来,随着环线道路和住宅小区的兴建,老北京城的胡同平房区正从现代化的新北京图景中渐渐隐去。

这些变化影响着居民的生活,影响着他们的代际关系和共处方式。大量的流动人口和城市迁移也带来了社会、行为方式和传统习俗方面的急剧变革。一些广受欢迎的新习俗出现了,例如室外进行的集体歌舞、下棋、体操和其它运动。

对王书刚而言,这些每天都能观察到的变化构成了他作品中反复出现的重要主题。传统与现代之间的冲突,令人叹息的历史和文化损失,这些都让王书刚及其时代同人倍感痛惜。但是也有一些与过去的有趣关联,因为这种室外休闲文化的发展可以追溯到清朝末期,一些没落的贵族乐意为之。这个阶层的人拥有足够的钱财,不用为生计奔波。他们整日在茶馆里打发时光。曾留学德国的王书刚把他们比作是巴黎的波西米亚人,对此瓦尔特·本雅明在上世纪二十年代曾做过详细论述。在充满吸引力的城市生活边缘也滋生出一种无拘无束的生活,其代表人物就是那些纨绔子弟和妄自尊大者。在艺术家王书刚看来,这些人无异于进行了一次社会和政治上的自我阉割:很多年轻人完全沉迷于“戏耍”当中,过着无聊无意义的生活。同时这些消磨时间的方式也逐渐成为北京的特色景观,直到今天还四处可见。

在经历了诸如革命内战、文化大革命和改革开放等历史变革之后,过去的那些活动(把玩太极球和提笼遛鸟)又重新出现了,但其中的一些不再为“上等阶层”所特有了。而是正好相反:沉醉于戏耍之中的主要是那些穷人和上了年纪之人,这些平头老百姓总是神色忧郁地聚在一起。这群一贫二穷的人继承了过去纨绔子弟们打发时光的方式,而与现代化的游戏器材无缘。在北京城崭新先进的街道上已看不到他们的踪影,他们被遗留在年久失修的老居民区里。

很久以来,中国人就喜欢在笼中养鸟,聆听它们的歌声,这已经成为中国的一个悠久传统。和在德国一样,鸟在中国也象征着自由和天籁之音。人们驯化鸟类,就是为了捕捉住它们身上最美的瞬间,也就是它们的歌声。但这样却破坏了鸟儿们自身的力量。对此王书刚是这样解释的:通过剥夺其它生物的自由,人们其实最终将自己捆绑了起来!而手持太极球的那些人让他联想到了手淫。这些男人到头来两手空空,失去了爱的能力和自由的生活。

值得一提的还有两个方面,即艺术家和个人在社会中的角色。这些雕塑人物都站立在底座上,这使他们的价值和地位得到了提升,同时作为群像也更加强化了他们的一体性。通常来说,中国社会并没有为个人提供足够的自由空间。而这是一个对社会主体具有决定性的因素。王书刚的作品就反映了这一问题,他塑造了具有相似特征的整体群像,把个体强行归入到某些单个的群体之中。这些个体的身份根据观察角度的不同而发生变化,就像一面镜子的正反两面那样:要么是塑像反映了艺术家,要么是艺术家反映了塑像。可以肯定的是,王书刚为这些生活在新中国和新北京的贫穷年老的边缘人创造了一种新的环境。在艺术展览上,他们被从简陋、甚至肮脏的生活环境带入到这个像医院一样雪白的纯净境界。这又为他们创造了一个新的艺术氛围。

王书刚所关注的就是那些生活在传统环境中的个体,他甚至将自己改头换面,加入到这个自我身份被集体取消的群体之中。

不管是在北京现实而又残酷的日常都市环境中,还是在排除一切干扰因素的纯净的白色立体艺术世界里,个体都享有和需要关注。为了唤起对他们和我们生活的新视野,这种关注将会变得越来越重要。

格奥尔格·阎森